Donnerstag, 19. Januar 2012

Ein neues Leben

Amy sitzt am Ufer des Sees. Canto das Aguas. Gesang des Wassers. Ja, das Wasser singt. Leise und beruhigend. Alleine sitzt sie da und blickt auf die gruenen Huegel in der Ferne. Hier nennt man sie Berge. Aber Amy weiss, dass es Huegel sind. Langsam verfaerbt sich der Himmel. Orange. Pink. Eine Mischung. Belo Horizonte. Wirklich ein schoener Horizont. Solche Sonnenuntergaenge gibt es in Europa nicht. Und diese Baeume sieht Amy ebenfalls zum ersten Mal. Ein Wunder. Oder ist es ein Wunder. Der Wind blaest sanft ueber ihre nasse Haut. Eigentlich sollte sie sich trocken reiben. Aber Amy mag nicht aufstehen. Ihre Beine befinden sich noch im Wasser. Spuert sie da etwa einen Regentropfen. Moeglich waere es. Auf dem See sind keine Regenspuren zu sehen. Amy merkt, wie es ihr schlecht wird. Langsam senkt sie ihren Kopf, oeffnet ihren Mund und wartet. Die Fluessigkeit kommt raus. Ungewoehnlich am Abend. Vielleicht sollte sie zurueck. Aber was wuerde sie im Haus machen. Mit Menschen reden. Oder alleine auf dem Bett im Zimmer sitzen und denken. Das kann sie auch hier machen. Hier am See ist sie nicht gefangen. Keine grauen Waende. Nur gruen. Sie bleibt sitzen. Ins Wasser will sie nicht mehr. Sie kann noch immer die braun-gelbe Fluessigkeit sehen. Essensreste. Wann hatte sie zuletzt Nahrung aufegnommen. Es muss fast vierundzwanzig Stunden her sein. Ihr ist es egal, was die Leute denken. Denken wuerden. Frueher war es ihr wichtig, jetzt nicht mehr. Sie kann es sowieso niemandem Recht machen. Wie auch.

Amy ist jung, so jung. Zu jung. Wann ist man alt genug. Sie ist erwachsen. Zumindest gesetzlich. Sie hat die Entscheidung getroffen hier her zu kommen. Ihre Tante besuchen. Ganz alleine, ohne Freunde. Vier Wochen schon. Jeden Tag geht sie zum See. Was soll sie sonst machen. Unternehmen. Treiben. Es gibt nichts zu tun. Sie koennte zurueckgehen. Sie ist frei, sie darf das. Es gibt kein festes Datum. Es war ein One-way Ticket. So wollte sie es. So und nicht anders. Man hat ihr angeobten andere Staedte zu besuchen, zu reisen. Es sei doch sicherlich langweilig jeden Tag dasselbe zu tun. Aber Amy ist nicht langweilig. Sie ist nicht aus Langeweile gekommen. Sie muss nichts erleben. Sie wollte einfach woanders nichts erleben. Hier ist es ok nichts zu erleben, hier kennt man Amy nicht.  Das ist gut so. Amy vermisst nicht viel. Nur ihre Mutter. Aber die ist tot, zu ihr kann sie nicht gehen. Manchmal fuehrt sie Gespraeche mit ihr. Am Abend. Aber nicht laut. Auf Papier oder im Kopf. Ihre Mutter kann sie verstehen. Sie weiss, dass man nicht immer gluecklich sein muss. Sie weiss, dass ihre Tochter zufrieden ist, wenn sie nicht lachen muss. Wenn sie nicht freundlich sein muss. Amy ist ihrer Mutter dankbar. Sie durfte immer so sein, wie sie wollte. Das fuehlen, was sie wollte. Amy moechte auch so sein mit ihrer Tochter. Oder Sohn. Wuerde sie eine gute Mutter sein. Bald wird sie es erfahren. Sie hat beschlossen das Kind zu behalten. Noch eine Operation wuerde sie nicht aushalten. Muss sie ja nicht. Sie darf ueber sich selbst bestimmen. Sie ist jung und darf eigenen Entscheidungen treffen. Bald nicht nur ueber sich selber. Auch ueber ein anderes Lebewesen. Eigentlich schon jetzt. Amy ist sich bewusst, dass sie mehr als einmal am Tag essen sollte. Aber es geht nicht. Sie kann nicht. Sollte sie mit jemandem darueber reden. Mit ihrer Mutter hat sie schon gesprochen. Aber das Mutti ist so verstaendnisvoll. Das Mutti.

Amy steht langsam auf. Sie schluepft in ihr Keid und nimmt ihr Tuch. Sie muss zurueck. Es ist fast zehn. Die anderen machen sich sonst Sorgen. Mit schweren Fuessen trottet sie zum Haus. Fuenf Gehminuten. Amy braucht zehn. Bevor sie die Tuere aufmacht blickt sie durch das Glas. Amy verpasst einen Atemzug. Die Oma sitzt da drinnen. Die Mutter ihrer Mutter. Sier hier. Seltsam. Sie ist noch nie ihre Tochter besuchen kommen. Nicht einmal in zwanzig Jahren. Sie haben Amy erblickt. Schnell erhebt sich ihre Tante und oeffnet Amy die Tuere von innen. Man laesst sie hineinkommen. Die Oma begruessen. Hinsetzen. Oma will nicht um den heissen Brei reden. Sie sei gekommen, um sie zu holen. Sie waere jetzt genug lange hier. Und ueberhaupt, man vermisse sie. Was man hoere klingt nicht gut. Immer dieses Alleinsein. Immerzu diese Distanz. Der Doktor Bixel wuerde sich um sie kuemmern. Zuhause. In einer Stunde wuerden sie losfahren zum Flughafen. Amy moege doch rasch packen und was kleines essen. Amy tut, was man ihr sagt. Ohne dabei zu denken. Ohne zu ueberlegen, ob sie das will.

Man sieht fast nichts, wenn man aus dem Autofenster blickt. Amy ist muede. War etwas in ihrem Essen. Oder ist es, weil es so anstrengend ist fuer zwei zu leben. Es ist egal. Amy weiss nicht, wie sie ins Flugzeig gekommen ist. Jetzt sitzt sie da auf einem Fensterplatz. Beim Abheben krallt sie ihre Fingernaegel in die Lehnen links und rechts. Was jetzt geschiet ist egal. Gleichgueltig. Was geschehen war ist noch unbedeutender. Amy schlliesst ihre Augen und vergisst.

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